1999 erlangte eine Idee weltweite Bekanntheit, die zuvor nur in Science-Fiction Kreisen geläufig war: Die Welt, die wir erleben, sei eine Simulation. Und unser Erleben dieser Simulation hindere uns daran, die Realität wahrzunehmen. Im Film „The Matrix“ wird der Protagonist vor die Wahl gestellt, weiterhin in der Simulation gefangen zu bleiben, oder – durch das Schlucken der roten Pille – die Wirklichkeit erfahren zu können: „This is your last chance. After this there is no turning back. You take the blue pill: The story ends. You wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill: You stay in wonderland and I show you how deep the rabbit hole goes. Remember – all I‘m offering is the truth. Nothing more.“ (Morpheus in „The Matrix“.)
Die Idee der roten Pille hat Einzug in mein Denken genommen. Die rote Pille als einem Synonym für den Moment des Augenöffnens, den entscheidenden Gedanken, der fehlt, um eine Situation richtig deuten zu können oder zu einem schlüssigen Gesamtbild zu gelangen:
„Achso, es ist gar nicht notwendig für das gute Leben Aller, dass ich als Fahrradfahrer Angst davor habe, auf der Straße zu fahren!“ Die rote Pille lautet: Die Fahrbahn ist für alle Fahrzeuge da. Fahrräder stören nicht den Verkehr, sie sind Verkehr. Auch wenn die Outofahrer sich darüber aufregen, wie langsam Fahrräder angeblich sind, kommt man mit einem Fahrrad wunderbar vorwärts (solange man nicht auf Outos warten muss). Outofahrer, die Fahrradfahrer oder überhaupt irgendwen fahrlässig („übersehen“, „toter Winkel“, „eilig gehabt“) oder gar vorsätzlich (Was macht denn dieser Radrowdy hier auf der Straße, der darf hier doch gar nicht fahren, dem zeig ich’s!“) in Gefahr bringen, verhalten sich asozial während sie eine lebensgefährliche Maschine im öffentlichen Raum bedienen (und glauben, sie wären gute Autofahrer(tm)).
„Achso, es ist gar nicht notwendig für das gute Leben Aller, dass Leichenteile in meinem Essen sind!“ Die rote Pille lautet: Es wird tatsächlich jedem Menschen, der Zugang zu seinen Gefühlen hat, schlecht, wenn er sich anschaut, wie dieses Essen hergestellt wird. Ich darf mich vor Essen ekeln, was aus Leichenteilen von mißhandelten Tierbabies besteht oder aus entzündeten Kuhkindertitten kommt und angemischt ist mit Magensekret. Es ist bewiesen, dass Menschen keine Leichenteile oder Tiersekrete zu sich nehmen müssen, um gesund zu sein – im Gegenteil, eine vegane Ernährung ist deutlich gesünder (und mindestens ebenso lecker) als die Ernährung des Durchschnittsdeutschen.
„Achso, es ist gar nicht notwendig für das gute Leben Aller, dass wir unser halbes Leben damit verbringen, das Vermögen von (finanziell) reichen, ignoranten, phantasielosen Leuten zu vermehren dadurch, dass wir die Welt vernichten und Mitmenschen sowie Umwelt Schaden zufügen (man nennt das „Arbeiten(tm)“)“. Die rote Pille lautet: Es ist für alle gesorgt, wenn die Waren und Dienstleistungen, die jeden Tag hergestellt bzw. erbracht werden, ausreichen, um die Bedürfnisse Aller an eben diesen zu befriedigen. Solange mehr hergestellt als verbraucht wird, ist von allem genug für Alle da. Und die Herstellung von Gegenständen ist dermaßen hochgradig automatisiert, dass es reicht, wenn ein kleiner Teil von uns an der Herstellung arbeitet. Wir müssen nur deshalb so viel herstellen, weil wir so viel wegschmeißen. Das, was die Menschen „beruflich“ tun, ist in vielen Fällen eine sinnlose oder gar schädliche Tätigkeit, die sie nur deshalb verüben, weil sie denken, sie müssten arbeiten(tm), um ihren Lebensunterhalt zu verdienen(tm). Momentan ist es einfach so, dass wir es zulassen, dass der Reichtum, den unsere Maschinen (Fertigungslinien, Computer, Maschinen) erarbeiten, von Leuten, die an der Schaffung der Werte nicht beteiligt sind, abgegriffen und aus dem Tauschkreislauf herausgenommen wird. Das, was wir Gewinn abwerfen(tm) nennen, ist einfach eine Lüge, ist lediglich Neusprech für „ausbeuten“, und Gewinn machen(tm) ist kein notwendiges Unternehmensziel sondern ein Verbrechen an der Menschlichkeit.
Ich denke, diese Beispiele reichen zur Illustration einiger solcher Augenöffner, die mir auf dem Weg zur Weisheit dargeboten wurden.
In seinem Buch „Keine Macht den Doofen“ beschreibt Michael Schmidt-Salomon einen Mechanismus, der erklären kann, warum sich fundamentalistische Glaubenssätze, die zu Leid auf der ganzen Welt führen, so hartnäckig in den Gesellschaften der Menschen halten:
„Denn die „Macht der Doofen“ beruht nicht auf individuellen Minderbegabungen, […]“ so schreibt er, „sondern auf kollektiven Denkschwächen: Politisch wirksam ist Dummheit nur, wenn sie epidemische Ausmaße annimmt, wenn der Irrsinn so allgegenwärtig ist, dass er als solcher nicht mehr zu erkennen ist. […] Das ist […] der Normalfall. […] Das Vertrackte an diesem „ganz normalen Wahnsinn“ ist, dass man ihn in der Regel nur erkennt, wenn man aus einer zeitlichen oder räumlichen Distanz heraus urteilt. Denn wir alle sind Gefangene der kulturellen Matrix, in die wir hineinsozialisiert wurden. […] Leider gibt es keine rote Pille, die man schlucken könnte, um aus der wahnhaften Matrix auszusteigen. Es bedarf schon einiger Denkanstrengungen, um auch nur einen kleinen Teil der zeitbedingten Mythen zu überwinden, die wir allesamt mit uns herumtragen.“ Michael Schmidt-Salomon – „Keine Macht den Doofen“
Postfuturismus.de beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass Menschen ihre Situation und Umwelt beurteilen auf Grundlage von Glaubenssätzen und Verhaltensregeln, die sie von anderen Menschen ungeprüft übernommen haben. Auf ihre Denkfehler hingewiesen, verteidigen sie diese fundamentalistischen Annahmen, die ihre Urteilsfähigkeit stark einschränken, anstatt sich dankbar zu zeigen dafür, dass ihnen jemand die Augen öffnet; Ihnen dabei hilft, zu einem kongruenten Weltbild zu gelangen, Alltagspraktiken aufzunehmen, die einem offenen Weltbild folgen und nicht zu Leid führen sondern ein gutes Leben für Alle möglich machen. Warum also – in den Worten Schmidt-Salomons – der Irrsinn als solcher nicht erkennbar ist und warum Menschen die Denkanstrengung, die zur Überwindung der Mythen nötig ist, nicht zu erbingen Willens sind.
Schmidt-Salomons Erklärung klingt so einfach wie schlüssig: Es sei eine ausgesprochene Spezialität der Spezies Homo Sapiens (die er daher (in diesem Kontext!) gerne „Homo Demens“ nennt), nachzuäffen. Verhalten Anderer ungeprüft zu übernehmen und exakt zu reproduzieren, selbst dann, wenn – wie er durch ein Experiment verdeutlicht – dieses Verhalten offensichtlich unsinnig sei.
Ich deute diese Aussagen für mich und sehe: Das Milch(tm) gesund sei, ist eine Aussage, die jedem Kind in unserer Gesellschaft mitgegeben wird. Ich meine mich zu erinnern, dass vor allem meine Oma es war, die diesen Glaubenssatz in meinem Kopf zu formen geholfen hat. Ich habe ihn von ihr erlernt. Im Laufe eines jungen Lebens bekommt der arme Mensch diesen Glaubenssatz eingetrichtert durch Widerholung: In der Schule gibt es Milch(tm) zu trinken, damit die Schüler genug Energie zum Wachsen haben und genug Kalzium, damit die Knochen stark werden können. In der Fernsehwerbung (diese Frechheit gibt es ja tatsächlich bis heute) wird durch geschickte Manipulation in den Köpfen des Konsumenten ein Zusammenhang zwischen fitter Gesundheit, unbeschwertem Leben und Milch(tm) hergestellt, indem Milch(tm)produkte von gesund und fit aussehenden Menschen beim Sport getrunken sowie von glücklichen Müttern den glücklichen Kindern angerichtet werden, während die Sonne auf den Frühstückstisch scheint.
Ja, das ist Manipulation. Teilweise bewusste, teilweise unbewusste. Das Ergebnis ist eine Form von Fundamentalismus: In meinem Modell von Wirklichkeit, meinem Weltbild, entsteht ein festes Fundament, das an der Stelle steht, wo Milch(tm) gesund ist. Ich denke und tue von da an einfach das, was mir nahegelegt wurde. Von dort an kann meinem Denken nur noch Mist entspringen, da kann ich noch so gut denken: Ich lehne jeden Gedanken ab, der darauf hindeuten könnte, dass Milch(tm) nicht gesund ist oder dass es aus irgend einem Grund ethisch verwerflich sein könnte, Milch zu trinken. Ein Fundamentalismus, der es mir unmöglich macht, eine vegane Perspektive in Erwägung zu ziehen. Milch(tm) ist schließlich gesund, warum soll ich mir da von so einem veganen Spinner die Milch(tm) schlecht reden lassen. „Veganer wollen eh jeden missionieren. Wie penetrant der nervt. Was das für irrelevante Verrückte sind. Wenn ich mir den mal genau ankucke meine ich ja sogar zu sehen, dass der untergewichtig und krank aussieht. Kann ja nichts sein, Leben ohne Milch(tm). Kann der ja machen, ist seine Gesundheit, soll mich aber mit dem Scheiß in Ruhe lassen!“.
Was mir in dem oben zitierten Absatz Schmidt-Salomons‘ fehlt, ist die Aussage, dass die meisten von uns noch während ihrer „Sozialisierung“ nicht nur haufenweise Fundamentalismen in ihrem Weltbild ansammeln, sondern gleichzeitig den Mechanismus erlernen, der es ihnen unmöglich macht Kritik (von außen oder von innen) anzunehmen: Sie werden dazu erzogen(tm), eine Anerkennungssucht zu entwickeln: Eine rationale Kritik, die geäußert wird, nach dem Muster: „Ist das beobachtete Verhalten dienlich zur Zielerreichung? Falls nein: Was genau war nicht zielführend und was wäre stattdessen zielführend gewesen?“ wird bei einem Anerkennungssüchtigen keine rationale Reaktion (aus Fehlern Lernen) hervorrufen, sondern eine Emotionale: „Der da hasst mich. Er sagt, ich sei falsch.“ Es gibt viele Menschen, die sich nicht eingestehen, anerkennungssüchtig zu sein. Die haben verlernt, ihre Verletztheit wahrzunehmen und werden sich von meiner Aussage nicht angesprochen fühlen. Diese meine ich aber ebenso wie die, die auf dem Weg zur Auflösung ihrer Anerkennungssucht bereits so weit gegangen sind, dass die merken, wann sie sich verletzt fühlen.
Die tiefe Verletzlichkeit jedenfalls, die ich an den Tag lege, wenn ich einen so niedrigen Selbstwert habe, dass ich eine sachliche Kritik als Abwertung meiner Selbst empfinde, hindert mich daran, Kritik jemals annehmen zu können. Stattdessen reagiere ich damit, dass ich mein nicht zielführendes Verhalten rechtfertige. Vor mir selbst oder zusätzlich noch vor meinem Gegenüber. Dies stellt einen Prozess dar, der Bewirkt, dass in mir die Schlussfolgerung entsteht, mein Verhalten sei gar nicht „schlecht“ gewesen oder aber – insofern ich einsehen muss, dass mein Gegenüber mit der Kritik recht hat – zumindest alternativlos(tm) (wegen diesem oder jenem musste ich so handeln und konnte nicht anders). So oder so, der Moment der Einsicht und damit der des Lernens bleibt aus und zurück bleibt eine Angst davor, erneut in Kritik zu geraten, weshalb ich mein Gegenüber ab sofort meide oder falls das nicht möglich ist, diskreditiere: Im Selbstgespräch oder im Stammtischgespräch mit meinen Freunden (Menschen, die mich nicht hassen (=kritisieren), sondern die mich mögen (=bestätigen) vor mir bekräftige, dass die Kritik ungerechtfertigt war oder der Kritiker generell keine Relevanz für mich hat. Womit ich mich erfolgreich von der fahlen Scham vor mir selbst, und der Angst vor meinem Gegenüber dissoziiert habe.
Wie funktioniert jetzt die rote Pille? Wie gelingt es mir, den von Schmidt-Salomon als „einige Denkanstrengung“ bezeichneten Schritt zu machen: Weg von der Überzeugung, mein Verhalten sei „gut oder alternativlos“ und das Verhalten aller anderen „schlecht und verletzend“, hin zu der Erkenntnis, dass mein Weltbild nicht kohärent ist und mein Verhalten Schaden anrichtet. Und hin zu der Prüfung meines Selbst- und Weltbilds, die es benötigt, um zu einem höheren Selbst zu gelangen? Einem höheren Selbst, was nicht mehr nach „gut“ und „böse“ unterscheidet und auch keine „Schuld“ sucht.
Die Antwort kennen alle Postfuturisten. Denn ohne „Denkanstrengung“ wird man in einer futuristischen Welt nicht zum Postfuturisten. Sie lautet: Sensibilisierung. Fordere dich dazu heraus, dich mit einem Thema zu beschäftigen, zu dem du eine Meinung hast: Du denkst(tm) Fahrradfahrer stören den Verkehr/Veganer wollen dir den Genuss an gutem Essen vermiesen/jemand gefährdet deinen Arbeitsplatz(tm)/Elektroautos seien „Scheiße“, weil sie leise und deshalb gefährlich für Fußgänger sind?
Bist du schon mal Fahrrad gefahren? Damit meine ich nicht Sonntags eine beschauliche Runde über ungestörte Feldwege im Sonnenschein Klickern, sondern z.B. an 265 Tagen im Jahr das Outo nicht berühren und stattdessen den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zu den Hobbies und Verwandten mit dem Fahrrad zurück legen. Egal ob es regnet oder ob es 6 Uhr morgens ist, egal, ob der Weg mitten durch die Stadt und durch den Dschungel des Berufsverkehrs geht. Einfach machen. Es stehen 100 Joker-Tage zur Verfügung, damit du nicht auf dein Outo verzichten(tm) musst: Wenn es schneit, kannst du mit dem Outo zur Arbeit fahren, wenn du zu Weihnachten mit den Kindern die Oma in Hamburg besuchen fährst, musst du das nicht umständlich mit dem Zug im Weihnachtsstress machen, sondern einfach Outofahren. Und den Großeinkauf einmal im Monat kannst du auch mit deinem Outo erledigen. Aber ansonsten wirklich ausdauernd ausprobieren und auf sich wirken lassen, wie Fahrradfahren wirklich geht und wie es sich anfühlt und welche Auswirkung es auf dich und dein Leben hat. Und erst dann urteilen und schlechtreden. Ich bin mir sicher, die Meisten, die das tun (ich bin einer davon und kenne viele Weitere) stellen fest, dass man keine 100 Joker Tage braucht und sich auf jeder Outofahrt wünscht, man wäre in der Lage stattdessen mit dem Fahrrad zu fahren.
Hast du schon mal vegan gegessen? Damit meine ich nicht, irgendwann mal Brötchen mit Marmelade oder Pommes Ketchup. Sondern z.B. an 265 Tagen im Jahr nichts zu sich nehmen, zu dessen Herstellung Tiere benötigt (=missbraucht) werden. Vegane Küchen der ganzen Welt ausprobieren, die Küche zu Hause gründlich ausrüsten mit allem, was man braucht, um lecker vegan zu kochen: Die duftenden Gewürze und die leckeren Gemüse. Die veganen Restaurants in der Stadt ausprobieren, sich reinlesen, welche Vitamine man braucht und wie man sie in den Speiseplan einbaut, sich mit anderen Veganern zum Essen treffen und austauschen und ins Gespräch kommen. Es wirklich mal erfahren, wie gut es schmeckt und wie gut es tut, vegan zu essen. Und es bleiben 100 Joker-Tage, an denen du omnivor (gemischt tierisch und pflanzlich) essen kannst: Damit du dich nicht vor deinen Fußballkumpels als „Pflanzenfresser“ outen musst, wenn zum Grillabend geladen wird, damit du dir auf Geschäftsterminen nicht auch noch Sorgen um das Essen machen musst und damit du zu Ostern den leckeren Braten, der dich so an deine Kindheit erinnert, genießen kannst. Und auch hier: Erst die Erfahrung machen und dann urteilen und schlechtreden. Ich bin mir sicher, die Meisten, die das tun (ich bin einer davon und kenne viele Weitere) stellen fest, dass man keine 100 Joker-Tage braucht und sich auf einmal eine vegane Welt wünscht, wenn einem der Geruch des Todes aus der Fleischabteilung schon beim Betreten des Supermarkts in die Nase kriecht oder wenn man irgendwo zu Besuch ist, wo man sich eine Milch, die nach…nun…feuchtem Heu und Fett schmeckt, in seinen Kaffee gießen „muss“.
Hast du schon mal kritische Meinungen über Arbeitslosigkeit(tm), Kapitalismus, Grundeinkommen oder das Entstehen unserer Volkskrankheiten(tm) gelesen? Damit meine ich nicht, in der Bildzeitung(tm) oder auf RTL eine vorgefertigte Meinung zu einem dieser Themen konsumiert(!). Dort werden kritische Standpunkte nämlich zum Glück noch im selben Beitrag dahingehend widerlegt, dass die gängige Praxis alternativlos(tm) sei und deshalb nur Spinner und Weltverbesserer(tm) tatsächlich den alternativen Weg gehen. Sondern ich meine Bücher, Zeitschriften- und Blogartikel, die sich auf wissenschaftliche Veröffentlichungen oder gelungene Praxisbeispiele beziehen. Mit Menschen über diese Themen gesprochen und dir erklären lassen, warum deine zweifelnden Gedanken unnötig sind, eventuell dich sogar regelmäßig mit Interessierten getroffen, irgendeiner Ortsgruppe für Bedingungsloses Grundeinkommen oder für zinsfreies Geld oder Humanismus beigewohnt? Und auch hier: Erst die Erfahrung machen, dann schlechtreden…
Bist du schon mal ein Elektroauto (oder was auch immer hier der Gegenstand deiner Schlechtrederei ist) gefahren? Wieso erlaubst du dir eine Meinung über Elektrofahrzeuge/Black Metal/Bodybuilding/Männer in Röcken/Raumfahrt/Liegeräder/verkehrsberuhigte(tm) Innenstädte/Ego-Shooter etc. wenn du dich nie damit beschäftigt hast? Warum verteidigst du alles, was scheinbar selbstverständlich zu deinem bürgerlichen Leben gehört (Outos, Wurst(tm), Arbeit(tm), AldiLidlRewEdeka, eigene Kinder, Staatsgrenzen etc.) und speist Gift und Galle auf alles, was anders ist?
Sensibilisierung und die damit einhergehende Faszination ist ein unglaublich bereichernder Prozess, in dem ich ein tiefes Verlangen des Menschen erkenne. Der Grad, in dem wir – aufgrund unserer materiellen, ideologischen und politischen Freiheit und durch unsere individuelle Freiheit im Denken – einem beständigen Prozess des Sensibilisierens für das Wunder der Natur und die Großartigkeit der menschlichen Phantasie und Willenskraft nachgehen und uns an dieser Kulturleistung beteiligen können, bestimmt maßgeblich darüber, wie erfüllend unser Leben ist. Ich wünsche uns, dass mehr Menschen als bisher sich dieses Geschenk machen.
(Ungeprüfte Glaubenssätze: „Tiere sind zum Nutzen da, man sollte sie aber artgerecht halten(tm).“, „Gott(tm) hat die Welt vor 4000 Jahren geschaffen.“, „Geld ist dazu da, vermehrt zu werden“, „Wer arbeitet(tm) hat einen Anspruch auf verdienten Urlaub“ [Anm. d. Autors: Den letzten muss ich übersetzen, sonst wird der gar nicht klar: „Wenn man – während man eine Tätigkeit ausübt, die man nicht aus eigenem Interesse, sondern auf Anweisung eines Vorgesetzten oder wegen einer Kundenanforderung fahrlässig ausübt – die Umwelt schädigt, Menschen betrügt und die Natur ausbeutet, erwächst daraus ein Anspruch darauf, dass ich durch Bezahlung dafür belohnt werde. Und auch ein Anspruch darauf, dass ich 140 Tage im Jahr dieser Arbeit nicht nachgehen brauche und trotzdem genug Geld habe, um in meiner Freizeit(tm) umweltschädlichen Aktivitäten nachzugehen.“].)
Meinen Dank an Michael Schmidt-Salomon und die Giordano-Bruno-Stiftung für die Arbeiten zur Ausformung, beständigen Weiterentwicklung und Verbreitung des evolutionären Humanismus.
Die Begriffe gute Autofahrer(tm), Arbeit(tm), Lebensunterhalt verdienen(tm), Gewinn abwerfen(tm), Gewinn machen(tm), Milch(tm), Erziehung(tm), alternativlos(tm), Denken(tm), Arbeitsplatz(tm), Verzicht(tm), Arbeitslosigkeit(tm), Volkskrankheit(tm), Bildzeitung(tm), Wurst(tm), verkehrsberuhigt(tm), Artgerechte Tierhaltung(tm), Weltverbesserer(tm), Gott(tm), Freizeit(tm) sind geschützte Marken des Wahrheitsministeriums.
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Dieser Artikel legt zwar einen möglichen Weg nahe, wie man sich aktiv sensibilisieren kann. Er könnte aber eine bessere Erklärung liefern, wie man diese Sensibilisierung im Sinne einer perpetuellen Selbstüberwindung als einen bereichernden, das Leben mit Sinn füllenden und dann auch anstrengungslosen (nicht mühelosen!) Prozess gestalten kann.
Völlig fehlt außerdem eine Idee davon, was man gegen die „Anerkennungssucht“ tun kann, die der Hauptgrund dafür sein dürfte, warum in einer äußerlich freien Gesellschaft der beschriebene Prozess der perpetuellen Selbstüberwindung bisher nicht ganz selbstverständlich Teil unserer Kultur und eines jeden Lebens ist.
Moin Jens,
vielen Dank für deine Videos und deine Webseite – mir gefällt’s jedenfalls.
Viele der Dinge, die du ansprichst versuche ich, hat sich so entwickelt, aber ich bin bei Vielem noch auf dem Weg. Warum bin ich Vegetarier, weil der Genuss des Fleisches niemals das Leid des Tieres aufwiegt. Selbst wenn das Tier gut gelebt hat und am Ende schmerzfrei getötet wird, so dies überhaupt möglich ist, so ist der größtmögliche physiologische Schaden entstanden, der Tod. Das ist hochgradig unethisch, sofern ich nicht selbst zum Überleben darauf angewiesen bin. Aber sicher meine Ernährungsweise ist trotzdem in vierlerlei Hinsicht nicht ethisch sauber. Es ist ein work in progress. Mein Kaffee wird nicht nur in Äthiopien angebaut, sondern auch dort geröstet und verpackt, die Wertschöpfung bleibt im Land. Beides, Vegetraismus und der Kaffee verringert nicht den Genuss, sondern erhöht ihn sogar. Bei den gennanten Beispielen ist mir das bewusst, aber dies ist bei einem Großteil dessen, was ich esse noch nicht der Fall.
Fahrradfahren ist ein spannendes Thema. Ich habe ein Auto, das wird aktuell vielleicht zehnmal im Jahr bewegt und setzt Moos an, es wird bald abgeschafft, denn das Stehzeug verbraucht zwar kein Benzin, aber Platz, ebenfalls eine wertvolle Ressource. Fahrradfahren ist gesund, aber der Kampf auf der Straße wird mit harten Bandagen geführt, erst heute bin ich mit nur wenigen Zentimetern innerorts überholt wordem, offenbar eine erzieherische Maßname, wie der untersetzte, übergewichtige Herr mit Verweis auf den Radweg, diesen ich durch frevelhaftes nicht fliegen können, unter Nutzung eines Verkehrsweges auf dem alle Fahrzeuge zugelassen waren, zu erreichen trachtete. Interessant auch die Selbstjustitz, er hätte mich um Haaresbreite fast schwer verletzt. Offenbar fährt bei vielen Autofahrern die Wut mit, wie selten erlebe ich das mit Radfahrern, freundlich grüßen sie und helfen sich bei abgesprungenen Ketten und platten Reifen. Die Art wie wir uns fortbewegen hat also durchaus gravierende Auwirkung auf unsere Stimmung, wie wenig wird das beachtet. Wenn ich mit dem Auto zwar eine halbe Stunde schneller, aber auch wütender, unglücklicher und angespanntera nkomme, was fange ich dann mit der gewonnenen Zeit an? Wenn ich mit dem Fahrrad fahre, ist das nie verlorene Zeit, es ist immer eine schöne, wenn auch manchmal herausfordernde Zeit (bei Gegenwind).
Interessant auch die Begegnung vor ein paar Wochen mit einem Arbeitskollegen am Getränkemarkt, er im Straßenpanzer, kaufte eine Kiste Bier. Ich mit dem Fahrrad und meinem Fahrradanhänger vier Kisten Wasser. Er fragte, warum ich das tue, ich antwortete:Aus Faulheit. Ich will doch keine vier Kisten zu Fuß transportieren. Er musste lachen, aber ich merkte, wie unangenehm es ihm war. Ein paar Kolleginnen sagen bei Regen „zum Glück bin ich nicht mit dem Fahrrad da“. Ich bin immer mit dem Fahrrad da und denke ab und zu nur, dass ein Velomobil eine feine Sache wäre, freue mich aber dennoch, dass ich mit dem Fahrrad auch bei Regen schnell unterwegs bin und nach dem vielen Bürositzen Bewegung habe.
E-Bikes sind in und ich sehe viele Menschen jetzt das Fahrrad nutzen und durchaus ordentliche Strecke machen, die davor nie Fahrrad fuhren. Das hat sein Gutes, aber die Straßen werden nicht breiter, jetzt ist es so, dass in der Stadtpolitik die Konkurrenz zwischen Fuß- und Radverkehr aufgemacht wird, dass der Autoverkehr und sei es nur der Parkplatzverbrauch das eigentliche Platzproblem verursacht, überrascht viele, denn das Auto ist so natürlich, wie Bäume. Das es einmal nicht mehr da sein könnte, können sich viele nicht vorstellen. Aber es glaubt nur noch eine laute Minderheit der Händler, dass die autofreie Innenstadt ihre Einnahmen schmälert und sukzessive beginnen bei Einzelnen sich andere Denkprozesse zu etablieren.
Das E-Auto in seiner jetzigen Form – sauschwer, sauteuer und saugefährlich (für andere) – ist mehr desselben, es ist wie der Katalysator im Auspuff. Es ist besser als nichts, zumeist aber ist es das Nebenauto, das Fahrzeug fürs Gewissen oder das Gimmik, weil es eben hoch gefördert wird, aber es gibt bessere Alternativen. Individualverkehr wird langsamer (zumindest in der Spitzengeschwindikeit) kleiner und leichter werden, die Geschwindigkeitsunterschiede dürfen nicht so gefährlich hoch sein. Reisegeschwindigkeiten sind doch oft schon heute im Schnitt bei unter 80 kmh. Die Bahn als fast vollständig elektrifiziertes Verkehrsmittel ist dann für die langen Strecken in kurzer Zeit da.
Warum muss ich immer neu kaufen und konsumieren und jeden Urlaub wegfliegen? Ich kaufe gern gebraucht, repariere Dinge, das gibt mir auch Selbstwirksamkeitserfahrungen. Warum muss ich weit weg fliegen, wenn doch garnicht entscheidend ist wo, sondern wie und mit wem ich meine Zeit verbinge?
Schmidt-Salomon, Rutger Bregman und Co zeigen, dass wir in unserer Gesellschaft eins nicht haben: ein Erkenntnisproblem, wir haben nur ein Umsetzungsproblem. Es kann nicht alles vom Einzelnen her verändert werden, aber jeder Einzelne muss Haltung zeigen. Eine Haltung seinen Mitmenschen, Mittieren und seiner Mitwelt gegenüber. Das macht auch ein gutes Leben aus.
Hallo Marco! Entschuldige, dass die Freischaltung deines Kommentars so lange gebraucht hat. Die Nachricht war im Spam untergegangen.
Ich danke dir für deinen Zuspruch und deine eigenen, tollen Schilderungen. Das ergänzt den Artikel wunderbar. Einen schönen Schreibstil und feinen Humor legst du da gleichzeitig an den Tag!